„Ich möchte nie wieder anders arbeiten“

Inklusive Pädagogik ist für Bianka Rechmann und ihr Team eine Herzensangelegenheit. Im Interview berichtet die Leiterin des FRÖBEL-Kindergartens & Familienzentrums Schneckenhaus über Erfolge und Stolpersteine auf ihrem Weg.

Bianca Rechmann leitet den FRÖBEL-Kindergarten & Familienzentrum Schneckenhaus in Königswinter (NRW).

Frau Rechmann, Ihre Einrichtung setzt sich schon länger intensiv mit dem Thema Inklusion auseinander. Was war der Auslöser?

Ich möchte etwas ausholen. Unser Kindergarten liegt eigentlich in einem sozialen Brennpunkt – hier leben viele Familien mit sehr geringem Einkommen, die wir als Familienzentrum unterstützen. Zugleich haben wir in unserer Einrichtung viele Kinder mit besonderen Förderbedarfen. Die Stadt will die Situation allerdings nicht so recht wahrhaben. Dadurch laufen Antragsprozesse für Unterstützung und bessere Rahmenbedingungen sehr viel komplizierter ab, als es in einem anerkannten Brennpunktgebiet der Fall wäre. Die besonderen Bedarfe vieler Kinder in unserem Haus sind aber Realität, und Corona hat Förderbedarfe eher verstärkt. Diese Tatsache zu erkennen und auch benennen zu können, setzte allerdings im Team einen Reflexionsprozess voraus.

Auslöser dafür, uns verstärkt mit Inklusion zu beschäftigen, war insofern eigentlich ein permanentes Gefühl der Überlastung und Erschöpfung im Team. Resultat war eine hohe Fluktuation an Mitarbeitenden, und es kamen Selbstzweifel auf, ob dieser desolate Zustand an uns und unserer Arbeitsorganisation liegt. Aus der Not heraus analysierten wir gründlich die Abläufe und Anforderungen im Haus und tauschten uns mit Kolleginnen aus anderen Häusern aus. Schlussendlich stellten wir fest, dass wir für die Bedarfe unserer Familien überhaupt nicht ausreichend personell aufgestellt sind – für uns als Team war es tatsächlich wichtig festzustellen, dass wir unserem Anspruch unter den gegebenen Bedingungen gar nicht gerecht werden können.

Besondere Bedarfe bei einem Kind festzustellen und darüber mit den Familien ins Gespräch zu kommen, erfordert viel Empathie. Was sind die größten Herausforderungen in der Zusammenarbeit mit Familien?

Die Grundlage in der Zusammenarbeit mit Familien ist Vertrauen. Offenbar finden wir oft die richtigen Worte, denn die Familien freuen sich über unsere regelmäßigen freiwilligen Hausbesuche und sind im Prinzip alle dankbar, wenn wir das Gespräch mit ihnen suchen und Unterstützung anbieten. Zwei Mal im Jahr führen wir Entwicklungsgespräche und dabei kommen wir dann auf besondere Förderbedarfe bei den Kindern zu sprechen. Wir empfehlen dann, unsere Beobachtung mit dem Kinderarzt oder der Kinderärztin zu besprechen, denn häufig überblicken Familien nicht ganz das Ausmaß eines Bedarfs oder einer Beeinträchtigung.

Manchen Familien fällt es schwer, eine Behinderung zu akzeptieren. Das braucht dann viel Zeit für Gespräche, um Sorgen abzubauen. Zeitmangel ist eine Herausforderung, denn die Kommunikation mit den Familien läuft nur direkt und mündlich. Aushänge, E-Mails und Briefe werden nicht verlässlich wahrgenommen.

Welche konkreten Hilfestellungen bieten Sie Familien an?

Wir bieten verschiedene Hilfen und Kurse für Eltern an. Mit dem Programm „Rucksack-Kita“ unterstützen wir vor allem Menschen mit internationaler Geschichte in ihren Erziehungskompetenzen. Gemeinsam mit dem Kind werden Aktivitäten wie beispielsweise Basteln oder Beetpflege im Gemüsegarten unternommen. Die Kinder und ihre Familien erleben sich dabei in einem anderen Setting und haben die Chance, einen anderen, mehr wohlwollenden Blick füreinander zu entwickeln.

Wir begleiten Familien bei Wegen zu Ämtern, Ärzten, helfen mit Anträgen, unsere Fachkräfte dolmetschen teilweise. Wir bieten einen Runden Tisch mit Therapeuten aus der Umgebung und ein Elterncafé als Treffpunkt an. Die Familien fühlen sich willkommen und kommen gern. Hier entstehen Freundschaften von Menschen aus demselben Wohnviertel mit unterschiedlichen Bildungshintergründen und finanziellen Bedingungen. 

Eine unserer Stärken ist sicherlich auch Geduld mit den Familien zu haben, ihnen zuzuhören, aber auch an manchen Stellen darauf hinzuwirken, dass sie ihre Verantwortung als Sorgeberechtigte gegenüber ihren Kindern ernst nehmen. Diese vertrauensvolle Zusammenarbeit überträgt sich auf andere Familien im Einzugsgebiet. Es kommen erfreulicherweise zunehmend auch gezielt mehr Familien, die für ihre Kinder ohne besonderen Förderbedarf eine inklusive Kita suchen. Wir kultivieren hier eine Art „informelles Netzwerk“, dass die Familien über uns miteinander aufbauen.

Inklusion hat viele Dimensionen – es geht nicht „nur“ um Kinder mit besonderen Bedarfen aufgrund von Behinderungen oder Entwicklungsverzögerungen, sondern auch um die Berücksichtigung verschiedener Sprachen und Kulturen oder des sozialen Hintergrunds. Was beschäftigt Sie momentan am meisten?

Das Thema Armutssensibilität ist sehr aktuell und stetig zunehmend. Wir erleben häufig, dass Kinder am Montag teilweise sehr hungrig und unruhig in die Einrichtung kommen. Wir informieren Familien über mögliche finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten (z.B. die sogenannten „Bildungs- und Teilhabepakete“), unterstützen bei Anträgen und haben einen guten Draht zum Sozialamt. Im Kindergarten selbst bieten wir Kinderkleidung über unsere Tauschbörse an. Auch die Erträge aus unserem Garten werden geteilt. Da das Thema Sprachen und Kulturen uns schon lange begleitet, sind wir mittlerweile auch personell vielfältig aufgestellt. Das erleichtert die Kommunikation mit den Familien enorm.

Was empfehlen Sie anderen Teams, die sich auf den Weg machen wollen?

Wenn das Herz für Inklusion schlägt, wie bei uns, dann ist es eine erfüllende Arbeit. Ich möchte nie wieder anders arbeiten! Aber diese Leidenschaft für das Thema braucht es auch, denn es ist ein aufreibender Weg. Man muss mit Rückschlägen klarkommen und viel Geduld aufbringen.

Auch das Team muss gut zusammenarbeiten. Jeder im Team bringt individuelle Fähigkeiten, Kompetenzen und Vorstellungen guter pädagogischer Praxis mit, die wir in Einklang bringen müssen, zur Zufriedenheit aller. Deshalb ist es ist ratsam offen und ehrlich zu sich und den anderen zu sein, was sich jeder Einzelne zutraut, wo die eigenen Grenzen liegen und wie Verantwortlichkeiten am besten gut aufgeteilt werden können.

Kitas bilden – anders als viele Schulen – im Idealfall die gesamte Gesellschaft ab. Eine offene Haltung der Fachkräfte gegenüber allen Kindern und Familien sollte daher selbstverständlich sein. Wir fragen mal etwas provokant: Warum arbeiten noch nicht alle Kitas inklusiv?

Vermutlich, weil es „Knochenarbeit“ ist und man nie weiß, was einen am Tag erwartet. Manche Kinder kommen in der Kita an ohne ein Verständnis von Struktur, Regeln und Grenzen. Das Leben in einer sozialen Gemeinschaft müssen sie erst erlernen. Und wir müssen immer auch darauf achten, dass die Kinder, die „mitlaufen“, nicht zu kurz kommen.

Dennoch ist es eine wirklich beglückende Arbeit. Es rührt mich jedes Mal, wenn die Kinder Fortschritte machen, und die machen sie jeden Tag. Bei uns erleben sie, dass jedes Kind so angenommen wird, wie es ist. Wir unterstützen sie dabei, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln und eröffnen ihnen Chancen, sich auszuprobieren und Erfahrungen zu machen, die ihnen ihr Umfeld häufig so nicht bieten kann.

Liebe Frau Rechmann, vielen Dank für das Gespräch!


Zur Homepage des FRÖBEL-Kindergartens & Familienzentrums Schneckenhaus in Königswinter: 
www.schneckenhaus.froebel.info